Judas by Oz Amos

Autor:Oz, Amos [Oz, Amos]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Suhrkamp Verlag
veröffentlicht: 2015-03-09T16:00:00+00:00

34.

Lieber Bruder,

diese Nacht hat es hier in Rom ein bisschen geschneit, aber der Schnee ist geschmolzen, bevor er auf die Straßen, die Gehsteige und die Denkmäler fiel. Schade. Ich habe Rom noch nie im Schnee gesehen. Nicht dass ich viel durch die Straßen laufe. Ich bin schon dreieinhalb Jahre hier und habe noch immer nichts gesehen. Ich lerne den ganzen Tag oder bin bei der Arbeit, abends bin ich als Aushilfe in einer Apotheke tätig und nachts vier Stunden im Telegrafenamt. Das Geld von diesen beiden Arbeitsplätzen reicht kaum für die Studiengebühren, für das Zimmer, das ich mit einer nervösen Studentin aus Belgien teile, und für zwei einfache Mahlzeiten am Tag: Brot, Milch, Gemüse, Spaghetti oder Reis und eine Tasse schwarzen Kaffee.

Ich weiß, dass dein Leben ebenfalls nicht leicht ist, seit Vater den Prozess gegen den Mistkerl verloren hat und unsere Firma »Möwe« in Konkurs gegangen ist. Ich weiß es, obwohl du mir fast nie schreibst. In den letzten vier Monaten waren es gerade mal zwei sehr kurze Briefe, in denen du mitteilst, dass du mit dem Studium aufgehört und eine Arbeit gegen Kost und Logis im Haus eines alten Jerusalemers gefunden hast. In zwei Zeilen hast du mir auch von Jardenas Heirat berichtet. Das Wort Einsamkeit taucht in deinen Briefen kein einziges Mal auf, aber jedes deiner Worte riecht nach Einsamkeit. Schon als Kind warst du immer ein einsamer Junge: Du warst entweder versunken in deine Briefmarkensammlung oder bist allein aufs Dach gestiegen und hast dort stundenlang gesessen und geträumt. Ich habe seit Jahren versucht, mit dir über dich zu sprechen, aber du weichst immer aus und redest über Ben Gurion oder über die Kreuzzüge. Du redest nicht, du dozierst. Ich hatte gehofft, Jardena könnte dich aus deiner Muschel ziehen. Aber du bist ja selbst die Muschel.

Ich stelle mir dein Leben im Keller irgendeines dunklen und baufälligen Jerusalemer Hauses vor, mit deinem Schwerbehinderten, der bestimmt ein alter, launischer Nörgler ist, ein alter, verwirrter Mann, der dich den ganzen Tag mit irgendwelchen Aufträgen beschäftigt, Briefmarken besorgen oder eine Zeitung oder Tabak für seine Pfeife, und du bedienst ihn die meisten Stunden des Tags (von morgens bis abends oder vielleicht sogar nachts?), und er oder seine Verwandten bezahlen dir nur ein paar Prutot, weil sie ja so gütig sind, dich bei ihnen wohnen zu lassen. Ist es in deinem Zimmer im Jerusalemer Winter wenigstens warm genug?

Noch vor ein paar Wochen habe ich gehofft, du würdest Jardena heiraten, obwohl ich, ehrlich gesagt, ein bisschen Angst vor ihr hatte. Vor zwei Jahren, als Vater mir noch Geld geben konnte, um in den Ferien nach Israel zu kommen, habe ich dich auch mal in Jerusalem besucht, erinnerst du dich? Und in deinem Zimmer in Tel Arza habe ich Jardena kennengelernt. Sie war ganz anders als du, ihr wart so verschieden, wie Menschen es nur sein können. Nicht im Schlechten. Du bist, wie du nun mal bist, und sie war so fröhlich. so laut, fast infantil. Du sitzt da und lernst, und sie sitzt dir

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